Rede „Gegen ein leeres Erinnern“ von Nizaqete Bislimi auf der Matinee „Völkermorde erinnern – Kriege verhindern“ am 15.4 2018 im Filmforum NRW im Museum Ludwig
Mein Ur-Großvater hat gegen die Nazis gekämpft. Ich erfuhr davon erst vor kurzem, während der Arbeit an meinem Buch. Bis dahin dachte ich, ich hätte keinen persönlichen Bezug. Meine Mutter erzählte mir während meiner Recherchen, dass ihr Großvater in Jugoslawien gegen die Nazis kämpfte und auch gefallen ist. Also mein Ur-Großvater. Meine Mutter ist in den 50er Jahren geboren, hat diesen Großvater also nicht kennengelernt.
In der Schule lernte ich sehr wenig über den Genozid. In den Geschichtsbüchern wird mit einem Halbsatz erwähnt, das Roma und Sinti ermordet worden. Ich setzte mich also sehr spät erst mit dem Thema auseinander.
Als meine Mutter davon erzählte, war das ein trauriges Gefühl, weil sie nicht und ich auch nicht die Möglichkeit hatten, diesen Menschen kennen zu lernen.
Aber es war auch berührend zu erfahren, dass dieser Mann gegen die Nazis gekämpft hat.
Oft liest man nur von den Opfern, die es gegeben hat. Mein Urgroßvater hat sein Leben gelassen, weil er gekämpft hat, gegen die Nazis. Das war schon sehr berührend.
Die Roma nennen den Genozid Porajmos, was auf deutsch so viel wie »Verschlingen« bedeutet. Wieviele Menschen das betraf und wieviele in nachfolgenden Generationen heute noch betroffen sind, ist unzureichend erforscht. Es wird angenommen, dass 500.000 Menschen ermordet wurden. Diese Zahl ist wie so viele Zahlen in der Politik bis heute umstritten.
Soziale Ausgrenzung, rassistische Diskriminierungen aber auch die zahlreichen und europaweit stattfindenden Vertreibungen, Abschiebungen und sogar Morde an Roma sind keine von einander unabhängigen Einzelereignisse. Sie stehen im Zusammenhang mit einem allgegenwärtigen feindlichen und abwertenden gesellschaftlichen Vorbehalt.
Die Verfolgung durch die Mehrheitsgesellschaft war eine Konstante. Lange vor dem Porajmos. Und auch danach. Mit vielen Abstufungen und Ausprägungen.
In den 50er und 60er Jahren haben die Menschen weitergemacht, die an der Selektion beteiligt waren. Es gab nach wie vor Nazis.
Vielen überlebenden Sinti und ihren Angehörigen wurde kurz nach der Befreiung und nach der Rückkehr aus den Lagern die zuvor aberkannte deutsche Staatsbürgerschaft wieder gegeben. Doch das wurde Anfang der 50er Jahre erneuten Prüfungen unterzogen. Zu großzügig sei man in der Vergabe von Pässen an Überlebende gewesen, fanden die Behörden nun. Dieser rassistische Geiz wirkte auch auf die Praxis der Entschädigungen.
Es dauerte Jahre, bis es zu Entschädigungszahlungen kam. Nach dem Krieg wurden Sinti und Roma von der Bundesrepublik nicht entschädigt, da die Tötungen nicht als Völkermord anerkannt wurden.
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, hatte anlässlich eines Besuchs beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe im Herbst 2014 darauf hingewiesen, dass sich das Hohe Gericht nach all den Jahren noch immer nicht von diffamierenden Formulierungen eines BGH-Urteils aus dem Jahr 1956 distanziert hatte. Damals hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass Sinti und Roma bis 1943 nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden seien. Die Richter hatten damals argumentiert Sinti und Roma seien nicht aus rassistisch motivierten Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden, sondern diese Handlungen hätten „polizeiliche Gründe gehabt“. Dies hatte neben der tiefen Beleidigung der Opfer außerdem die Konsequenz, dass an die Überlebenden keine Entschädigungen gezahlt werden mussten. 1963 wurde dieses Urteil revidiert. Erst der Besuch Romani Roses beim Bundesgerichtshof über 50 Jahre später bewirkte eine offizielle Distanzierung dazu.
Im Rahmen eines Besuches in Heidelberg besuchte ich die die Dauerausstellung des Dokumentationszentrums. Die Ausstellung gegen das Vergessen hat mich sehr beeindruckt. Sie ist das Ergebnis einer jahrelangen Bürgerrechtsbewegung.
Der rassistisch motivierte Porajmos wurde erst 1982 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt. Ausgedacht hatte er sich das nicht selbst, das war kein Geschenk. Die Roma Bürgerrechtsbewegung bestand seit Anfang der 70er Jahre auf ihre Rechte.
In den 60er und 70er Jahren waren viele Roma unter den sogenannten Gastarbeitern. Die sich aber als solche aus Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung nicht zu erkennen gegeben haben. Dieses Verstecken – die Unsichtbarkeit – gibt es bis heute.
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien ab 1993 vertrieben viele Roma nach Westeuropa und auch nach Deutschland.
Kurzfristiger Schutz wurde zumeist über Erlasse und Duldungen geregelt. Duldung bedeutet aber nichts anderes als Aussetzung der Abschiebung,. Eine längerfristige Aufenthaltsperspektive war nicht vorgesehen.
Kaum waren die Kriege vorbei, sollten die geflüchteten Roma abgeschoben werden. Dagegen wehrten sie sich. Und tun es heute noch.
Ob 1991 oder 2002 in Düsseldorf. Oder 2015 in Berlin am Mahnmal.
Diese Kämpfe führten nicht zum Bleiberecht. Doch sie sind als Erinnerung ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben.
Seit 2012 gibt es in Berlin ein Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Es wurde in einem langen und schwierigen Prozess erkämpft. Es war für mich nicht glaubwürdig, als Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede zur Einweihung des Mahnmals der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti gedachte. Denn wenige Zeit später löste ihr damaliger Bundesinnenminister Friedrich mit einem großen Interview in einer Zeitung erneut die Debatte über Asylmissbrauch von Roma aus.
Ich spreche mich gegen ein leeres Erinnern und ein kaltes Vergessen aus.
Das war der Grundstein für die Konstruktion der sicheren Herkunftsstaaten Serbien, Mazedonien, Bosnien Herzegowina, Montenegro, Albanien und Kosovo.
Seit der Entscheidung für das Gesetz zu den sicheren Herkunftsstaaten sind monatlich hunderte Roma mit Sammelabschiebungen aus Deutschland bedroht und tatsächlich abgeschoben worden. Die nächsten Abschiebungen stehen fest.
Die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im sicheren Herkunftsstaat Kosovo ist für mich ein unauflösbarer Widerspruch. Es zeigt sich ein unmäßiger Wille zur Ignoranz.
Ignoriert wird die Menschenrechtssituation vor Ort. Als Argument verwendbar ist dagegen die hohe Ablehnungsquote in den Asylverfahren, die man selbst produziert hat.
Folge der Einstufung als sichere Herkunftsstaaten sind Schnellverfahren und Unterbringung in Sondereinrichtungen – auf Verladebahnhöfen, im Wald.
Die zynische Prognose einer geringen Bleibeperspektive, der in Paragraphen gegossene Rassismus gegen Roma isoliert Menschen.
Die Not vieler südosteuropäischer Roma ist riesengroß. Das schmerzt.
Heute flüchten manche nach Deutschland. Nach jeder Abschiebung. Erneut. Immer. Wieder. Also nicht neu – sondern eine alte Geschichte: Familienleben in andauernder Migration. Dieses weitestgehend ignorierte Phänomen umfasst und überschattet Generationen, zerreißt Familien. Ihre Geschichte mit Deutschland ist historisch gewachsen. Die Verantwortung des bundesdeutschen Staates ist vielfach. Kein Rückübernahmeabkommen kann an diesem moralischen Fakt etwas ändern.
Alle Roma sind Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus. Unter den Abgeschobenen sind die Nachkommen der Opfer der im Nationalsozialismus ermordeten R und S in der zweiten und dritten Generation.
Wir sprechen uns gegen ein leeres Erinnern und ein kaltes Vergessen aus.
Und wie sieht es in der Realität aus? Die Proteste sind leise. Die Abschiebemaschinerie läuft. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf kranke oder traumatisierte Menschen. Kinder werden aus den Schulen geholt in Flugzeuge gepackt.
Was die Statistik schön macht: die freiwillige Rückreise. Doch Menschen mit Abschiebung zu drohen, wenn sie nicht selbstständig ausreisen, hat mit Freiwilligkeit nichts zu tun!
Für uns Erinnern heißt Abschiebungen zu verhindern.
Proteste, Kundgebungen, Demonstrationen, Gedenkveranstaltungen zu organisieren. Unser Wissen zu archivieren. Unsere Geschichte zu schreiben und unsere Rechte zu fordern.
Wir setzen uns ein für das Recht auf ein sicheres Leben für Roma, aber auch andere Minderheiten, die rassistisch aussortiert werden.
Geht diesen Weg mit uns gemeinsam!
Vielen Dank!!
Das Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocaust
Rund 500.000 Roma und Sinti wurden während des Holocaust ermordet als Opfer einer rassistischen Verfolgungspolitik deutscher Nazis und ihrer faschistischen Verbündeten. Doch dieser Völkermord ist heute weitgehend unbekannt. Roma und Sinti wurden in Vernichtungslagern getötet und fielen in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern Hunger und Krankheiten zum Opfer. Viele wurden deportiert und als Zwangsarbeiter ausgebeutet, auf Bauernhöfen, auf Baustellen und in der Industrie. Die Überlebenden wurden jahrzehntelang nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung anerkannt und erhielten nur geringe oder überhaupt keine Entschädigungszahlungen für ihren verlorenen Besitz. Die Homepage bietet grundlegende Informationen für SchülerInnen / LehrerInnen über den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma.
Website: www.romasintigenocide.eu