»Heute wollen wir ein Gedicht schreiben«

Dogan Akhanli

Wenn ich nicht nach Deutschland eingewandert wäre, hätte ich mir wahrscheinlich niemals die Verbindung zwischen eigener Vergangenheit, eigenen Erinnerungen und der Vergangenheit, den Erinnerungen der Kurden, Armenier, Aleviten, Juden und Griechen ins Bewusstsein rücken können. Die Verbindungen und die Unterschiede. Ich hätte weiterhin dem Mythos der Gründung der Türkischen Republik Glauben geschenkt und hätte gezögert, das Massaker an den Armenier als Völkermord zu bezeichnen.

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich nicht ein einziges Buch über den Genozid von 1915 gelesen, das nicht auf Lügen basierte. Das Land, in das ich einwanderte, und mein Geburtsland, Deutschland und die Türkei, hatten seit Jahrhunderten freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Und die Vergangenheit beider Länder war voller Traumata. Doch trotz der jeweiligen historischen Schuld gab es grundsätzliche Unterschiede zwischen beiden Ländern. Während die Vergangenheitsbewältigung und die Erinnerungsarbeit in Bezug auf die eigene historische Schuld und Verantwortung das zweite, das schöne Gesicht Deutschlands war, beharrte die Türkei nach wie vor darauf, einen der beiden bestuntersuchten, bestdokumentierten Völkermorde dieser Erde, den an den Armeniern, für den sie Verantwortung trug, zu leugnen, und weigerte sich beharrlich, sich diesem historischen Unrecht zu stellen.

Erstmals 1999 wurde, in der Kölner Aufarbeitungsgeschichte, eine Veranstaltungsreihe „Genozid und Gedenken“ zum Thema Völkermord an den Armeniern organisiert. Jeder von uns, die aus der Türkei stammten, kannte mindestens eine Geschichte über Gräueltaten an den Armeniern, hatte sie schon als Kind oder später als junger Mensch oder noch später als Erwachsener gehört. Aber egal ob man Linksradikaler war, Nationalist oder frommer Muslim: es existierte damals eine unausgesprochene Übereinkunft, die für alle galt: Ignorieren, Schweigen, Leugnen, sobald die Vernichtung der Armenier von 1915-1916 zur Sprache kommt. Die Nationalisten und Ultrarechtnationalisten wollten diese Auseinandersetzung torpedieren, indem sie Veranstaltungen zu sprengen versuchten. Doch es gelang ihnen nicht.

Nach der Veranstaltungsreihe „Genozid und Gedenken“ wurde die Idee geboren, im ehemaligen Kölner Gestapogefängnis, dem heutigen NS- Dokumentationszentrum der Stadt, regelmäßig türkischsprachige Führungen anzubieten. In den Führungen wurden Antworten auf Fragen gesucht wie diese: Ist die Holocaust nur eine jüdisch-deutsche Geschichte oder/und auch eine transnationale Geschichte? Ist der Völkermord an den Armeniern für Deutschland eine „fremde“ Geschichte? In der Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums gibt es Dokumente, die zeigen, wie sehr die Geschichte des Holocaust auch eine deutsch-türkische ist. Über Salomon Freud zum Beispiel. Er wurde am 24. September 1884 in Konstantinopel geboren und besaß die türkische Staatsangehörigkeit, ebenso wie seine Frau Hedwig und sein Sohn Alfred. Die Familie Freud siedelte nach Deutschland über und wohnte bis 1939 in Köln. Hedwig, Salomon und Alfred Freud wurden am 3. September 1942 zuerst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert und gelten als „verschollen.“ Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Während der Shoah wurden über 3.000 türkische Bürger in Europa ermordet (Guttstadt 2008).

Ein Exponat in der Dauerausstellung in Köln erzählt uns, dass Adolf Hitler und Franz von Papen am 4. Januar 1933 Gespräche über eine gemeinsame Regierungsbildung in einer Villa führten (Stadtwaldgürtel 35). Franz von Papen war im Ersten Weltkrieg von 1915 bis 1918 Stabschef der 4. Türkischen Armee. Mit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk besuchte er Palästina, ab April 1939 war er Botschafter in Ankara (Gottschlich 2015). Die türkischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg standen weitgehend unter deutschem Oberbefehl. Zum Beispiel unter dem von General Otto Liman von Sanders, der im „Prozess Talaat Pascha“ als Sachverständiger auftrat (Hofmann 1980). Die wahren Täter des Völkermords (unter ihnen Talat, Enver und Cemal Paşa) flohen mithilfe der Deutschen nach Berlin. In dem Jahr, in dem ein junger Mann namens Raphael Lemkin mit dem Jurastudium begann, wurde der Hauptverantwortliche der Armenier-Deportationen, Unterzeichner der Deportationsbefehle, Innenminister und Großwesir Talat Paşa, am 15 März 1921 in der Hardenbergstraße in Berlin von Soghomon Tehlirian erschossen.

Lemkins späterer Kommentar zu diesem Ereignis war: „Der Talat-Paşa-Prozess von 1921 war sehr lehrreich. Ein Mann, dessen Mutter beim Völkermord getötet wurde, Soghomon Tehlirian, tötet Talat Paşa. Sehen Sie, als Rechtsanwalt habe ich gedacht, dass ein Vergehen nicht durch das Opfer, sondern durch ein Gericht, durch nationale Justiz bestraft werden müsste.“ Den Einfluss des Völkermords an den Armeniern auf die Formulierung der Völkermordkonvention beschreibt Lemkin folgendermaßen: „Das Leid der armenischen Männer, Frauen und Kinder, die in den Euphrat geworfen oder auf dem Weg nach Deir ez-Zor massakriert wurden, war der Wegbereiter zur Annahme der ‚Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes‘.“

Raphael Lemkin verlor als schwuler Jurist alle Angehörigen (mit Ausnahme seines Bruders und seiner Schwägerin) im Holocaust. Er starb 1959, völlig verarmt, in New York. Auf seinem Grabstein steht: Father of the Genocide Convention.
In der 256 Seiten umfassenden Urteilsschrift der Nürnberger Prozesse, bei denen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht gestellt wurden, sind der Vernichtung der europäischen Juden lediglich drei Seiten gewidmet. Der Begriff Völkermord wird in der Anklageschrift dieses Prozesses erstmalig verwendet. Es ist das erste offizielle Dokument, in dem erwähnt wird, dass es sich bei dem Völkermord an den Armeniern um „den ersten Genozid des Jahrhunderts (handelt), bei dem 1,4 Millionen christliche Armenier auf Befehl der türkischen Regierung getötet wurden“.

Trotz der unverzeihlichen Schwächen der Sicherheitsbehörden, die die NSU-Morde sowie ähnliche Übergriffe und Anschläge nicht verhindern konnten, hat die heutige Erinnerungskultur Deutschlands nicht nur für das Land selbst, sondern auch auf internationaler Ebene große Bedeutung. Die NSU-Morde sind gleichzeitig auch eine bittere Warnung, nicht zu vergessen, dass Erinnerungskultur nicht statisch ist, sondern ein Prozess, in dessen Verlauf jede Generation ihre Art, ihre Mittel der Geschichtsaufarbeitung immer wieder überdenken und weiterentwickeln muss.

Die Geschichtsaufarbeitung der Türkei ist eine Erfahrung der Leugnung, die eine wissenschaftliche Untersuchung wert wäre.
“Es giebt andererseits auch sehr wenig Türken,“ schrieb der Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“ (Tyszka ) am 15.9.1915, „mit denen man offen über die Armenierfrage reden kann, gleich bricht selbst bei sonst gebildeten und weltgewandten Menschen eine Wut durch, die alles in einen Topf wirft und die immer mit dem Refrain endet: „Alle Armenier gehören ausgerottet, sie sind Verräter!“ [Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts / “1915-09-05-DE-001/Quelle: PA-AA/R 14087; A 27887, pr. 24.9.1915 p.m.;] Der Hass, der immer noch aktuell ist, mit dem in der Türkei nicht-türkischen, nicht-muslimischen Mitbürgern begegnet wird, erinnert an die Worte des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix: Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen! Denn die Juden waren lebende Beweise des Geschehenen, die die Deutschen ständig an ihre Schuld erinnerten. Mit hoher Sensibilität wurde Verantwortung übernommen, wurden wichtige Maßnahmen ergriffen, Mittel und Wege zur Wiedergutmachung zu finden und auf Opfer und Überlebende des Holocausts zuzugehen. Währenddessen beharren diejenigen, die die türkische Identität überbewerten, seit hundert Jahren darauf, den Armeniern das Konzentrationslager Deir ez-Zor, das 1915/16 in der syrischen Wüste eingerichtet war, niemals zu verzeihen. Diese Herzensblindheit, vermengt mit dem Schlamm aus Leugnung und Lügen, produziert Mörder. Weil die größte Schuld unserer modernen Geschichte nicht aufgearbeitet wurde, weil kein Weg gefunden wurde, mit der Schuld umzugehen, bleiben nicht nur der Staat mit seinen Institutionen, sondern auch die Gesellschaft zu Gewalt und Mord verdammt. Vor unsert Augen wurde Hrant Dink erschossen, wurde der Mörder als Held gefeiert, ließen sich Polizisten mit ihm neben der türkischen Flagge fotografieren, feierten sie den Mord mit dem Absingen der Nationalhymne. In Malatya wurden Mitarbeiter einer Bibel-Druckerei abgeschlachtet, in Trabzon wurde ein italienischer Mönch ermordet. Selbst nach dem Tod von 50 000 Menschen wurden den Kurden die grundlegendsten Rechte vorenthalten. Die Wüste von Deir ez-Zor hörte nach einem Jahrhundert nicht auf, Menschen, nun auch andere Ethnien, zu schlucken.

Es war politisch und moralisch nicht hinnehmbar, dass Deutschland, trotz der Erfahrung der Geschichtsaufarbeitung, die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern bis ins Jahr 2016 hinausgezögert hat.

Es ist soweit.

Den Holocaust in Verbindung mit dem Völkermord an den Armeniern zu betrachten, bedeutete heute keine Relativierung der Schoah, sondern eine Erweiterung und Vertiefung der deutschen Aufarbeitung, die aber nicht mehr nur deutsch bleiben sollte. Denn die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Völkermorde, sollte Teil der Holocaust Education sein, und die Beschäftigung damit sollte aus dem nationalen Rahmen in einen transnationalen übertragen werden. Auschwitz verwandelte den Versuch, weiterhin Gedichte zu schreiben, zwar in Barbarei (wie Adorno sagte), aber der einzige Weg, die Existenz von Auschwitz zu ertragen und sich zur Wehr zu setzten, besteht darin, trotz Auschwitz Gedichte zu schreiben.
Und heute wollen wir ein Gedicht schreiben. Das ist der Sinn der Veranstaltung.